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Der Dichtersänger Oswald von Wolkenstein (* 1377 – † 2. August 1445) begegnet mehrmals im Werk des Dichters Thomas Kling. Im Band „Fernhandel“ (Köln: DuMont 1999) stehen drei 1997/98 entstandene Gedichte.
Thomas Kling
(* 5. Juni 1957 in Bingen am Rhein; † 1. April 2005 in Dormagen)
Oswald von Wolkenstein sieht sich
Ein hoher rang ward für mich auserwählt:
untergraf von Türkei;
genügend leute gabs, die meinten
ich sei ein oriental'scher adeliger gewesen.
ein maurisches gewand, rot von gold,
ein kostbares, gab mir könig Sigmund,
in dem ich mich bestens zeigen konnt
und arabisch sang und tanzte.
Wolkenstein sieht Paris
In Paris: viel tausend menschen
in den häusern, gassen, straßen,
kinder, frauen und männer – dichtes gewirr –
standen gedrängt in reihen spalier;
die sahen sich alle könig Sigmund an,
den verdienten römischen mann
und nannten mich einfaltspinsel
in meiner narrenkappe.
Wolkenstein sieht Heidelberg
Nach Heidelberg reit ich zu meinem mächtigen herrn.
fünf kurfürsten, junge-junge, würd ich da vorfinden: von Köln,
Mainz und Trier, die drei bischöfe, hohe repräsentanten,
pfalzgraf bei Rhein, markgraf v. Brandenburg – so leute halt.
Ich hoch auf den Berg, ins zentrum rein, bis vor die tür
von herzog Ludwig, den ich vor allen andren fürsten schätz wg.
seinem charakter, seiner göttlichen freigebigkeit. kam durch zu ihm:
besten wein hat er mir versprochen.
Sofort mußt ich auftreten, voller sound, stück auf stück.
das ende vom lied: in seine suite wurd ich zur übernachtung
einquartiert. fand ich prima. so ein geschenk und
solche ehre!, haben meine freunde nie sich einfalln lassen.
Mit mantel und sakko wurd ich puppenmäßig angezogen:
füchse und marder ersetzen mir den reiseloden.
ein pelzgefütterter hut kam mir aufs haar geflogen –
was er mir riet? mußt ich schwörn für mich zu behalten.
Aus: Thomas Kling: Gedichte 1992-1999 (Werke 2) Hrsg. Peer Trilcke. Berlin: Suhrkamp, 2020, S. 330f
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