Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
An der Nachricht #108 gefiel mir, wie Surrealismus und Trotzkismus (nicht überraschend) mit Pfingsten (überraschend) zusammenpassen. Eine fröhliche Vielstimmigkeit aus Morgenland, geeignet, uns mit aus dem Westen reimportierten Stimmen in unserer Sonntagszeitungsruhe von Bildweltfas zu stören. Natürlich unmerklich – wir sind harthörig. Surrealismus und Schlimmeres, hach, gibts ja in Deutschland nicht, außer in faßlichen Portiönchen. Hier ein ägyptisches Beispiel (in der Kunst gibt es keine Ausländer):
Georges Henein
Fabel für eine lange Kindheit
Die Sprache ist das Gegenteil des WORTES. Ich meine, die Sprache dient seit Dutzenden von Jahrhunderten dazu, die vom WORT verursachten Schäden wieder zu heilen.
Das WORT hat eins gemeinsam mit dem Fingernagel, ist es nämlich einmal ins Fleisch eingewachsen, wird es unerträglich.
Sind der Freude die Türen verschlossen, die Städte in Quarantäne, die Schnauze plump und der Blick inspiriert, bedeutet die Fleischwerdung den äußersten Grad von Bösartigkeit, nämlich Weltflucht.
Überall, wo das fleischgewordene WORT herrscht, schämen sich die Menschen ihres Fleisches. Es fällt ihnen schwer, noch einige Rülpser Überraschungsfleisch mit sich herumzutragen (man ist doch immer einer Erektion ausgeliefert, nicht wahr…!). Das Ekzem der Reue flößt ihnen irgendeine stinkende Brühe ein. Sie sind bereit, das Leben billig abzustoßen, wie die Verrückten Golgatha zu spielen, nur um das WORT zu mästen. Übrigens ist das die Zeit, wo sich die Löwen über die Geheimnisse der menschlichen Rasse ernsthaft Gedanken machen.
Sobald ihm nach Fleischwerdung ist, schwingt sich das WORT empor. Die Offenbarung ist die rhetorische Form des Alpinismus. Die Namen dieser Luftkurorte sind bekannt: Sinai, Berchtesgaden, der Ölberg. Ihre Höhenlage ist verschieden, aber eins ist sicher: auf die „gute neue Mär“ folgt unweigerlich ein sagenhaftes Gemetzel. Wenn sich das WORT auch nur ein bißchen von seiner Höhe herabläßt, wenn die Geschichte auch nur ein bißchen im Flachland gemacht wird, lassen die Menschen das Grimassenschneiden wenigstens teilweise bleiben. Sie entdecken ganz einfach die Sprache aufs neue. Die Sprache als Ausdrucksweise der menschlichen Freizeit. Die Sprache als Kunst, klare, genießbare Dinge auszudrücken. Beispiel: die Hostie ist WORT. Das Steak ist Sprache. Und wenn man nach Hinweisen sucht, die das heimliche Lächeln des Schicksals bekräftigen, schlage ich folgendes vor: Niemand ist jemals auf den Gedanken verfallen, zu sagen: „Ich habe Lust auf eine gute Hostie.“
Übers. Brigitte Weidmann
In: Das surrealistische Gedicht. Hrsg. von Heribert Becker, Édouard Jaguer und Petr Král. Dritte, korrigierte und erweiterte Auflage. Zweitausendeins / Museum Bochum, Frankfurt am Main 2000. 1888 S., S. 559-561.
Neueste Kommentare