Tag der bittren wilden Nesseln

Heute vor 40 Jahren starb der Dichter Erich Arendt. Ich wähle zum Anlass ein Gedicht aus dem Zyklus „Tolú“, den er 1943 bis 1950 im Exil in Kolumbien schrieb.

Erich Arendt 

(* 15. April 1903 in Neuruppin; † 25. September 1984 in Wilhelmshorst)

Indiogötter

Aughöhlen, aufgerissen in granitener Leere:
Giganten heben ihren Blick vom Steppenrand.
Aus den entblößten Zähnen dringt die Schwere
erdalten Schweigens bis zum Dach der Andenwand.

Der Tag der bittren wilden Nesseln legt oft seine
glutharten Lippen auf die Stirn, die Grauen sinnt.
Ein greiser Dorn, erhoben aus dem Urgesteine,
steht das Geschlecht dem Gotte zeugungslos im Wind.

Mondwolken streuen Asche auf den Mund der Steppen,
wenn Lava aus des Kraters offner Wunde fließt.
Licht Stern und Donner brechen die Gewesenen nicht.

Mit toten Augen sehn sie, nun die Nacht sich schließt,
durch schwarzes Gras die Indios ihre Armut schleppen,
voll Trauer und granitener Schwere das Gesicht.

Aus: Erich Arendt: Gedichte 1925-1959 (Kritische Werkausgabe Bd. 1. Hrsg. Manfred Schlosser). Berlin: Agora, 2003, S. 225

Schlossers Ausgabe nennt als Textgrundlage für Band 1 „die jeweils erste Druckfassung“. Das ist für den Zyklus der Band „Trug doch die Nacht den Albatros“ (Berlin: Rütten & Loening, 1951). Erich Arendt hat viele Gedichte in späteren Drucken überarbeitet. „Tolú“ erschien selbständig mit dem Untertitel „Gedichte aus Kolumbien“ in der Insel-Bücherei bei Insel Leipzig 1956 (Neuauflage 1973) sowie in dem Sammelband „Aus fünf Jahrzehnten“ (Hinstorff 1968). Die von Gerhard Wolf herausgegebenen „Sämtlichen Gedichte“ in Einzelbänden (beim Rimbaud Verlag Aachen) folgen der Fassung letzter Hand, als die die Inselausgabe von 1973 zu betrachten ist.

Textabweichungen

  • 2. Strophe 1. Zeile: legte seine
  • 3. Strophe 2. Zeile: aus der offnen Kraterwunde fließt.
  • 4. Strophe 12. Zeile: nun die Nacht -> wenn die Nacht

Außerdem gibt es geringfügige Abweichungen in der Zeichensetzung. In dem Sammelband von 1968 ist das Gedicht datiert: 1945.

Quelle: Erich Arendt: Tolú. Gedichte aus Kolumbien. Hrsg. Gerhard Wolf. Aachen: Rimbaud, 1997, S. 15

Anmerkung

Tolú ist eine Gemeinde im Norden Kolumbiens, direkt am karibischen Meer.

Mehr über den Zyklus bei Planet Lyrik.

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