106. Persische Literatur in westlicher Sicht

Meine neueste Übersetzung eines längeren persischen Gedichts ist Gorganis „Wīs und Rāmīn“, das ich in Paarreimen übersetzte (400 Seiten Paarreime!).

Meiner Meinung nach ist Gorganis Gedicht eine der ungewöhnlichsten Liebesgeschichten der Weltliteratur, wenn nicht gar die herausragendste. Ich ziehe sie sogar Nisamis Werk vor, so wunderbar es ist. Ich habe es gern übersetzt, beim Arbeiten fühlte ich eine Nähe zu Gorgani, wie ich sie zu keinem anderen Dichter gefühlt habe, manchmal war mir, als ob er mit mir das Zimmer teilte. Für Firdusi und Attar empfinde ich Respekt, für Gorgani Freundschaft. …

Übersetzungen verändern Kulturen, aber sie tun auf eine Art, auf die die Kultur vorbereitet ist. Im 18. Jahrhundert galt Sa’adi im Westen als der am meisten bewunderte Autor, weil sein Werk eine universale Ethik zu verkörpern schien, die der von den großen Figuren der europäischen Aufklärung verfochtenen zu ähneln schien (und die amerikanischen Transzendentalisten des 19. Jahrhunderts liebten ihn aus dem gleichen Grund).

Goethes romantischer Mystizismus* zog ihn zu deutschen Übersetzungen von Hafis, weil er in ihm etwas zu sehen glaubte, was er sowohl suchte als auch zu tun glaubte; ähnlich, wenn auch in völlig anderer Tonart, die heutige Popularitär Rumis im Westen – man liest seine Verse als gleichzeitig tief spirituell und sehr antidogmatisch.

Die meisten Westler, die sich für spirituell halten, stehen im Verdacht sektiererischen Dogmas, und Rumis Spiritualität, die eine wahrhaft universale ist und keine sektiererische, bedient dieses Gefühl. / Dick Davis, Professor of Persian at Ohio State University, im Gespräch mit Tamara Ebrahimpour, presstv.ir

*) Ob Goethes Sicht auf Hafis mit der Bezeichnung „romantischer Mystizismus“ getroffen ist, kann man bezweifeln. Goethe sagts so in einem wunderbaren Gedicht:

 

O f f e n b a r G e h e i m n i ß.

Sie haben dich heiliger Hafis
Die mystische Zunge genannt,
Und haben, die Wortgelehrten,
Den Werth des Worts nicht erkannt.

 

Mystisch heißest du ihnen,
Weil sie närrisches bey dir denken,
Und ihren unlautern Wein
In deinen Namen verschenken.

 

Du aber bist mystisch rein
Weil sie dich nicht verstehn,
Der du, ohne fromm zu seyn, selig bist!
Das wollen sie dir nicht zugestehn.

 

(Hier)

Und ich traue dem deutsch-persischen Dichter Cyrus Atabay, der in seiner Auswahl Hafisscher Liebesgedichte über Goethe schreibt:

Eine nicht versiegende Lebendigkeit hatte Goethe in Hafis erkannt, die Vielschichtigkeit eines Werkes, an der die Erklärungsmethoden der Fais-Forschung scheiterten, war ihm offenbar. Auch diese begriff allmählich, daß es unzureichend war, Hafis‘ Gedichte nur dem Wortlaut oder einem allegorischen Sinn nach verstehen zu wollen: der realistische sowie der mystische Bezug sind Aspekte eines Ganzen, in dem das Profane und das Heilige, irdische und himmlische Liebe, Sinnlichkeit und Geist ineinander übergehen. Die Doppeldeutigkeit, die zu dieser Frage Anlaß gab, ist ein von Hafis bewußt angewandtes Stilmittel: eine bewegliche Skepsis, die fortgesetzt alles bedenkt und relativiert. Gewiß bedient sich Hafis der überlieferten Form (eines konventionellen Inventars von Topoi), doch innerhalb dieser grenzen drückt er sowohl die Kritik der Zeit und der Gesellschaft wie seine eigene Erlebniswelt aus. Die Substanz eines Hafis-Verses ist unverkennbar: seine geistige Transparenz, seine Begeisterung für alles Lebende und die völlige Freiheit von jedem Dogmatismus.

Cyrus Atabay, Nachwort, in: Hafis, Liebesgedichte. Frankfurt/ Main: Insel 1980, S. 82

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