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Während Wladimir Putin einen weiteren diplomatischen Sieg feiert, bleibt ein Bestandteil dieses Sieges im Westen weitgehend unbekannt: die terroristische Bombenserie, die viele russischen Geheimdiensten zuschreiben und die seit Wochen Städte wie Cherson, Saporishje und Dnipropitrowsk heimsucht. Am Dienstag, am Vorabend der Minsk 2-Gespräche, explodierte eine Bombe im Haus des bekannten russisch-jüdischen Dichters und Psychologen Boris Chersonski in Odessa, wo in den letzten zwei Monaten etwa ein Dutzend solcher Bombenanschläge stattfanden. Türen, Fenster und Fußböden seiner Wohnung wurden zerstört und einige Räume verwüstet. Im selben Stock des Gebäudes gibt es auch eine Herberge für Flüchtlinge aus Donezk und Lugansk.
Die Bombe lag unter einem Müllhaufen zwischen der Wohnung und der Herberge. Chersonski lebt nicht mehr in dieser Wohnung, aber sie ist in öffentlich zugänglichen Quellen als seine Adresse verzeichnet. (…)
Chersonski, der einen ganz eigenen klassizistischem Stil pflegt, ist vielleicht der bekannteste russischsprachige Dichter der Ukraine. Er veröffentlichte mehr als zwei Dutzend Gedichtbände und einen Band verschmitzt-heterodoxer „Chassidischer Sprüche“ sowie Essays und Erinnerungen. Im letzten Jahr trat er als vehementer Verteidiger der ukrainischen Souveränität auf. Nach zahlreichen Todesdrohungen kam jetzt der Anschlag, unmittelbar nachdem er in einem vielbeachteten Artikel die Bombenanschläge kritisiert hatte.
(…) Ein Artikel im Wall Street Journal zitiert ihn als jemand, der die Leser an die Identität der Hafenstadt als kosmopolitische und autonome Stadt erinnert: „Odessa ist sehr verschieden von der russisch orientierten Krim und der Donezker Region mit einem hohen Anteil russischer Bevölkerung. In Odessa wird weitgehend Russisch gesprochen, aber sie ist ein wahrer Schmelztiegel der Kulturen ohne Dominanz einer einzelnen nationalen Idee. ‚Der Separatismus in Odessa wird von außen hineingetragen‘, sagt Boris Chersonski. „Odessa möchte von jedem unabhängig sein“. (…)
Odessa ist neben der belagerten Stadt Mariupol der einzige der Ukraine verbliebene Hafen nach der Annexion der Krim.
Im Profil seines sozialen Netzwerks sagte Chersonski, wenn man ihn frage, was er bei einem Szenarium wie in Donezk tun werde, antworte er, er werde „die Katzen unter die Arme nehmen und gehen“. Er könne und wolle nicht unter einem Putinistischen Regime leben.
Nach dem Bombenanschlag veröffentlichte er ein Gedicht:
explosions norm of life coming to terms with them you
stop noticing man it be your end
the sapper and demolition man arm-in-arm in the park
whisper in each other’s ear what are they saying
get the gist of the action shovel means undermine
conspiracy means undermine, underhanded means overkill
granny grew plain dill* under the rain that fell mainly
elderly lady means elderberry, God means year
you get the gist of death out of the blue avalanche
gist of vodka for mortals to handle loss
mind means undermined means over and out
black square of a mustache means till death do we part
sapper and demolition pal arm-in-arm in the alley
terminating angel beholds them holds them with love
we are unfreebirds good night sweet prints turning read
shines the black sun the no one’s rose of a shell shard
(Translated from Russian by Vladislav Davidzon and Eugene Ostashevsky.)
*Ukrop ist das russische Wort für Dill und als Neologismus ein Schimpfwort für die Ukrainer, offenbar während der Kämpfe im Donbass aufgekommen. Es wurde später von den Ukrainern aufgegriffen, die es stolz auf sich anwenden. T-shirts tragen das Bild einer Dillpflanze und das Wort Ukrop.
Vladislav Davidzon,|Tablet Magazine 13.2.
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