42. Meine Anthologie: Walasse Ting

Der chinesisch-amerikanische Künstler Walasse Ting wurde 1929 in China geboren. Er wuchs in Shanghai auf, 1946 verließ er China, über Hongkong kam er 1952 nach Paris. Auf der Überfahrt, heißt es, lernte er Englisch. In Paris kam er in Kontakt mit Mitgliedern der Künstlergruppe COBRA wie dem Dänen Asger Jorn. Lange teilte er sein Leben und Schaffen zwischen New York und den Niederlanden. Im Jahre 2002 erlitt er eine Hirnblutung und kann seitdem nicht mehr arbeiten.

Vor einigen Jahren konnte ich auf einer Antiquariatsmesse einen Gedichtband erwerben, der 1967 in New York erschien:

Chinese moonlight. 63 poems by 33 poets. Hrsg. und aus dem Chinesischen ins Englische übersetzt von Walasse Ting. Mit 4 Siegeln und 4 doppelseitigen Farblithographien von Walasse Ting. New York, Wittenborn, [1967].

Streng genommen scheint es sich gar nicht um Gedichte von Walasse Ting zu handeln, sondern um Übersetzungen klassischer chinesischer Gedichte, u.a. von Li Po (Li Bai), Po Chu Yi (Po Chü-I), Wang Wei, Su Shih, Chuangtse, Lu Yu, Tu Mu, Tu Fu, Mung Hao Jan u.a. Es sind allerdings sehr eigen-artige Übersetzungen. Das Übersetzen aus dem Chinesischen, heißt es im Vorwort, sei eine besondere Herausforderung. Wie solle man das sich windende Zeichen für Drachen übersetzen? Selbst noch in der neueren Version des Zeichens könne man den Drachen sehen, deutlicher noch in den ältesten Versionen. (Hier bei Wikipedia)

Das chinesische Ideogramm funktioniere auf mehreren Ebenen. Der Dichter benutze direkte, aber auch übertragene Bilder, kombiniert mit raffinierten Reimmustern. So entstehe eine Art literarischer Morsecode, und nur wenn man den kenne, könne man die Mitteilung ganz verstehen. Es sei den Chinesen besonders wichtig, den Dichter voll zu verstehen, aber auf paradoxe Weise, ohne Worte. Der Charakter dieser Sprache weise auf etwas Unausgesprochenes, die verschwiegene Ebene des Gefühls, und sie erreiche ihr Ziel, indem sie zugleich bildlich und wörtlich vorgehe.

Für mich besonders spannend: Walasse Ting übersetzt die alten Chinesen fast genauso, wie es Rainer Kirsch forderte (vgl. L&Poe 2010 Feb #16. Meine Anthologie: Fremdartig). Er übersetzt oft ganz Wort für Wort. Das geht im Englischen besser als im Deutschen – es entsteht eine Art Pidgin English, vereinfacht, aber voll verständlich. Li Bais Gedicht „Nachtgedanken“, von dem ich in jenem Eintrag eine Wortfürwortübersetzung und mehrere Versionen der ersten Zeile mitteilte, geht bei Walasse Ting so:

Moonlight near foot of bed
Like frost on ground
Lifting head gaze round moon
Dream of home

Walasse Ting sagt über seine Übersetzungsmethode: „Ich behalte den ursprünglichen Gedanken, manchmal verwende ich andere Wörter, um den Gedanken deutlich zu machen. Ich benutze das Englische wie Chinesisch“.

Hier zwei Gedichte von Li Bai in Walasse Tings Version:

Resentment

Little lady not eat candy
Don’t want go to movie
Sit in dark room
Alone

——————————

Large Bed

She smells like garden
Flower gone, my bed too large
Already three years
Fragrance not gone
She not return
Bed still too large

(Muß ich betonen, daß ich diese Gedichte liebe?)

3 Comments on “42. Meine Anthologie: Walasse Ting

  1. Pingback: 26. Walasse Ting gestorben « Lyrikzeitung & Poetry News

  2. Hallo Herr Gratz,
    Sie haben nicht zufällig das Gedicht „One Cent Life“ von Walasse Ting oder können mir sagen, wo ich es finde? Ich sah kürzlich in einer Ausstellung eine Lithographie von ihm, auf der es zu lesen war. Freundliche Grüße
    Pagophila

    Like

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..