17. Besser als Goethe

Sein lyrisches und dramatisches Oeuvre füllt Bände um Bände, er war ein Dichter, der durch die Form die Welt gleichsam neu schaffen wollte, dem das Schreiben leichtfiel und der daher oft mehr Kunststücke als Kunstwerke vollbrachte.

Das Hauptgeschäft dieses unermüdlich Schaffenden ist denn auch von heute gesehen eher ein philologisches gewesen. Der Mann, der unglaubliche 44 Sprachen beherrschte und durch den großen Orientalisten Hammer-Purgstall, dessen Hafis-Übersetzung auch Goethes Diwan inspirierte, in die Dichtung und Geisteswelt des Orients eingeführt wurde, übersetzte den Koran, sowie zahlreiche Großwerke der persischen, arabischen und indischen Literatur und führte das Ghasel in die deutsche Lyrik ein.

1923 stellte der Orientalist Hermann Kreyenburg folgende rhetorische Frage, die eben so gut heute gestellt werden könnte: „Wie viele Deutsche ahnen, dass eine erschöpfende Gesamtausgabe der Meisterübersetzungen Rückerts einen Thesaurus der Weltliteratur in deutscher Sprache darstellen würde, der die kühnsten Träume Goethes an Vielseitigkeit und Meisterschaft überstiege?“

Aber in allem, was er tat – übersetzen, edieren, lehren –, sah Rückert sich in erster Linie als Poeten und orientierte sich an Goethes Leben und Werk – nicht zu seinem Besten. Nur einmal ermöglichte es tiefster Schmerz, der den Menschen fast zerriss, dass eines seiner lyrischen Werke das entsprechende Goethes, nämlich die Marienbader Elegie übertraf – wohlgemerkt nicht, was die künstlerische Kraft angeht, vielleicht aber in Hinsicht auf die Gefühlsintensität, die sich auf den Leser überträgt. Ich spreche von den 1834 nach dem Verlust seiner Lieblingskinder Ernst und Luise entstandenen „Kindertotenliedern“.  / Michael Kleeberg, Die Welt 4.7.

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