74. Hinterlassenschaft des Nationalstaatgedankens

Vielleicht wird man einst das Kalevala – das finnische Nationalepos – und sein lyrisches Seitenstück, die Kanteletar, zusammen mit dem Kalevipoeg, dem estnischen Pendant dazu – als die einzigen Hinterlassenschaften des Nationalstaatgedankens betrachten, die es wert wären, dem kulturellen Gedächtnis der Menschheit erhalten zu bleiben. Alle drei Textsammlungen wurden im 19. Jahrhundert kompiliert, redigiert und ergänzt; in Finnland von Elias Lönnrot, in Estland von Friedrich Kreutzwald. Damit gelangte die ostseefinnische Kultur als letzte zu einer nationalen Identität auf der Grundlage antiker, bis dato mündlich überlieferter Schöpfungsmythen und Heldensagen. Was ethnografischer Fleiß und tiefenhistorische Anamnese der Herausgeber zutage förderte und durch Zusammenstellung und Nachdichtung gleichsam neu erfand, harrt außerhalb des Baltikums immer noch der Entdeckung als Zeugnis ebenso versponnener wie vergleichsweise friedfertiger Gründungsmythen. Dabei verdienen die zum Teil aus vorchristlicher Zeit stammenden Lieder und Epen schon deshalb unsere Aufmerksamkeit, weil sie mit erstaunlicher Zähigkeit 700 Jahre Fremdherrschaft ohne schriftliche Fixierung überdauert haben. Noch mehr befremdet die Paradoxie, daß die Herkunft dieser Texte, die doch den Korpus jeweils staatstragender literarischer Denkmäler ausmachen, die nationalen Grenzen zwischen Finnland, Russland und Estland gänzlich ignoriert.  / Daniele Dell’Agli, Perlentaucher 5.8.

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