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Selten begegnet man einem Gedichtband, der eine so sorgfältig gestaltete thematische Gesamtkonzeption mit weitreichender Gedanklichkeit und sinnlich wahrnehmbarer, konkreter Bilderwelt verbindet, ohne das denkende, fühlende und redende Ich auszuschließen. Es ist allerdings kein von den Befunden überwältigtes Ich, das bekennt, wie es leidet oder was es beglückt. Ein Rest von Distanz gegenüber den Phänomenen bleibt immer präsent. Das äußert sich schon darin, dass die meisten Gedichte die Vergangenheitsform bevorzugen: Das Imperfekt regiert, das Referat; nicht gegenwärtiges Empfinden, sondern das Nachdenken über Vergangenes. Ein epischer Grundzug, der Hauch der Historizität haftet den Gedichten an. Man könnte fast von Berichtgedichten sprechen.
Distanzierend wirken auch die Kunstmittel der Mehrdeutigkeit, der Anspielungen und Zitate (sogar Rilkes „verneinende Gebärde“ kommt einmal vor) und besonders die auf neue Art verbundenen Hauptwörter, in denen man jeweils ebenso poetische wie reflexive Konzentrate der Betrachtungen erkennen kann: „Zerpflückungswünsche“, „Verwirrungsmuster“, „Auflösungsängste“ – seit Gottfried Benn hat niemand solche Kombinationen so souverän produktiv gemacht.
Marion Poschmanns Gedichte wenden sich geist- und kunstvoll dem Heikelsten zu, was der Lyrik nachgesagt werden kann: dem Unklaren, dem Unfassbaren, dem „holden Ungefähr“. Aber sie zählen dabei nicht auf das gefühlige Mitschwingen, sondern auf das um Aufklärung bemühte Nachdenken des Lesers. Das macht sie zu einem beglückenden Leseerlebnis. / FAZ 17.4.
Marion Poschmann: „Geistersehen“. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 126 S., geb., 17,80 €.
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