Mandelstams Venedig

Ossip Mandelstam dachte sich, ausserhalb des Chors der Jubelnden stehend, die Stadt als Ort einsamen Sterbens, als «unfruchtbar und düster». Aber eben: Er war nie in Venedig! Im Jahr 1920, in der Krimstadt Feodossija, während des russischen Bürgerkriegs zwischen zaristischen «Weissen» und bolschewistischen «Roten», inmitten von Hunger und Erschiessungen, versucht er in den Weinbergen als Tagelöhner zu überleben. Die Bestialisierung des Bürgerkriegs in Südrussland hatte er mit eigenen Augen gesehen. Eines Abends rezitiert er einem verblüfften Zeitgenossen die sieben prachtvollen Strophen seiner Vision vom Sterben des Menschen – in der Lagunenstadt (deutsch im Band «Tristia»):

Feine Luft der Haut. Die blauen Adern.
Weisser Schnee. Grüner Brokat.
Alle legt man auf Zypressen-Bahren,
Löst sie schläfrig-warm von Hüllen ab.
Und es brennen, brennen in den Körben Kerzen,
Als flög die Taube in die Arche heim,
In Theatern und auf leeren, öden Plätzen
Stirbt der Mensch, stirbt er allein.

Doch Venedig war für diesen Dichter auch eine Maske für das sterbende Petersburg, das von jeher als das «Venedig des Nordens» bezeichnet wurde. Mandelstams Imagination erkannte das erotische Fluidum der Stadt und ihres Karnevals. Am Schluss eines der schönen Schauspielerin Olga Arbenina gewidmeten Gedichts vom Dezember desselben Jahres 1920 heisst es: «An dir reizt alles, alles singt / Wie italienische Rouladen. / Dein kleiner Kirschenmund will flink / Jetzt herbe Trauben haben. // Versuch auch nicht, zu klug zu sein, / Du bist die Laune, bist nicht ewig, / Der Schatten von dem Hütchen – ein / Maskenbild wie in Venedig.» / Ralph Dutli schreibt in der NZZ vom 16.11.02 über Russen in Venedig von Puschkin bis Brodsky.

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