Das Gedicht macht mich unsterblich

Ich blätterte ohne besondere Erwartungen im Abschnitt „Volkspoesie“ in der von Adolf Endler und Rainer Kirsch nachgedichteten Sammlung „Georgische Poesie aus acht Jahrhunderten“ (1971). Da blieb ich an einem Gedicht hängen, das in meinen Ohren so gar nicht nach „Volkspoesie“ klang. In dem Buch gibt es knappe Informationen über die Autoren, aber nicht über diese anonymen Texte. In der Anthologie stehen diese Gedichte zwischen Schota Rustaweli (der zur Zeit des deutschen Minnesangs lebte) und dem König Teïmuras I. (1589-1663). Sollten sie wirklich so alt sein? Um so verwunderlicher wäre die „moderne“ Anmutung dieses Gedichts.

(Oder ob deutsche Dichter des späten Mittelalters oder der frühen Neuzeit auch „modern“ klingen, wenn man sie heute ins Georgische übersetzt?)

Das Gedicht

Also hab ichs ausgesonnen:
Durch dies Lied, ich dichts beizeiten,
Bleib ich leben, wenn ich sterbe,
Im Gedächtnis bei den Leuten.
Singen werdens meine Freunde,
Der Panduri rührts die Saiten,
Alle freun sich, und ich faule
Tief im Sarg, dem längst zu weiten –
Mein Gedicht mit seinen Reimen
Wird sich in der Welt verbreiten,
Meinen Namen werden nennen
Größte Länder, fernste Zeiten,
Wenn längst Blüten treibt mein Lager,
Längst zerfiel mein Haus zu Scheiten,
Und auf meiner Witwe wird wohl
Längst ein andrer munter reiten,
Längst –
So komm ich zu der Frage,
Wer, gilt es mich aufzubahren,
Mich am innigsten betrauert,
Ach, man wird es bald erfahren,
Ach, mein Herz wird recht behalten:
Keiner wird an Tränen sparen,
Aber eine nur, die liebe,
Nur die Mutter weint die wahren.
Alles kommt in Trauerkleidern
Und mein Weib mit offnen Haaren,
Wittib, überreich an Tränen,
Ihre Küsse, auch nicht raren,
Trösten bald schon einen andern,
Nicht in Monden, nicht in Jahren,
In drei Wochen; unvergessen
Bleib ich nur dem wunderbaren
Herzen meiner lieben Mutter.
Oft wird sie im Schlaf hochfahren,
Mich als Kind im Arme wähnen,
Denk ich wie von Foltermalen
Ihr Gesicht verheert von Tränen,
Wein auch ich.
O Qual der Qualen!

Nachgedichtet von Adolf Endler, aus: Georgische Poesie aus acht Jahrhunderten, Berlin: Volk und Welt, 1971 – 2. Auflage 1974, S. 75f. (Den Nachdichtungen liegen Interlinearübersetzungen aus dem Georgischen von Nelly Amaschukeli zugrunde.)

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