Zur Interpretation von Gedichten

Die Zeitschrift „Sinn und Form“ erscheint zur Zeit im Monatsrhythmus, um den Ausfall aufzuholen. In der Nummer 3 Gedichte von David Keplinger, Kornelia Koepsell, Uta Gosmann, Sándor Tatár und Durs Grünbein sowie Beiträge von Yoko Tawada und Rudolf Borchardt und die Laudatios auf Birgit Kreipe (Nico Bleutge) und Dinçer Güçyeter (Insa Wilke) (hier mehr). Daraus ein Gedicht.

Durs Grünbein

ZUR INTERPRETATION VON GEDICHTEN

Beim Anblick des Dichters im weißen Kittel 
kam die Frage auf: wie viele Abtreibungen 
der wohl eigenhändig vorgenommen hat.
Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, 
da ließ sich einiges machen.
Bekannte brachten ihm ihre Frauen in Not,
»denen ich ärztlich mehrfach behilflich war ...«.
Nach Praxisschluß kamen dann die Gedichte 
zustande, beim Radiohören, beim Blättern 
in Lexika oder Bildbänden des Genres 
Über die Schönheit des weiblichen Körpers.

Der Mann mit den goldenen Händen, 
der sanfte Beschwörer: Wie Odysseus habe er 
aus Neugier bewußt die Hölle besucht, hieß es, 
und dabei keine Einzelheit ausgelassen.
Nachzuweisen war ihm indessen nichts.

Aus: Sinn und Form 3/2023, S. 350

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