89. Schrott und Hesiod

(…) Daher gilt es als erwiesen, dass Homer der ältere, ja der ursprüngliche Dichter ist, der dann mit elegantem Zirkelschluss wieder zum besseren verklärt werden kann. Diese Einschätzung hat sich hartnäckig erhalten, auch wenn natürlich immer wieder Stimmen laut geworden sind (etwa die von Martin L. West), die mit guten Gründen für die Priorität Hesiods eintreten.

In den Chor dieser Stimmen reiht sich nun auch Raoul Schrott ein mit seinem Essay „Der Ursprung der Musen bei Hesiod und Homer. Ein Beispiel des Kulturtransfers von Ost nach West“, der den größeren Teil des zu besprechenden Buches ausmacht und damit weit über die im Titel angekündigten Erläuterungen hinausgeht. Denn Schrott unternimmt es zugleich, ein neues Bild von der Rolle, die Hesiod als ältester europäischen Dichters bei der Entstehung der Poesie spielt, zu zeichnen. Dieses Bild ist ein spannendes, bisweilen kühnes und es gefällt mir sehr: Nicht als originalgeniehaften Erfinder der Poesie stellt Schrott Hesiod an den Anfang der europäischen Literatur, sondern als ersten uns fassbaren Agenten in einem orientalisch-griechischen Kulturaustausch; nicht der griechische Helikon, so seine These, ist der eigentliche Ursprungsort der Musen, es ist der Norden Syriens, von wo aus der Kult der Götterdyade Hepat -Musuni nach Griechenland übernommen wurde. Die Musen, wie wir sie kennen, erblickten das Licht der Welt in dem sich daran anschließenden Assimilationsprozess. Dichtung wird so zum Nebenprodukt einer kulturellen Verschmelzung orientalischer und griechischer Vorstellungen. Dieses Bild könnte, wenn es sich beweisen ließe, viele der Probleme, die der Text der hesiodeischen Theogonie bietet, lösen. Ja, die wissenschaftliche Diskussion, die er unter  Gräzisten, Orientalisten, Archäologen, Historikern und Sprachwissenschaftlern auslösen könnte und sollte, verspricht reichen Erkenntnisgewinn.

Doch genau hier liegt das Problem. Denn an dieser Diskussion scheint Schrott überhaupt nicht gelegen zu sein. Statt eine Diskussion anzuregen, versucht er, alle Fragen allein und abschließend zu klären – oder sich wenigstens den Anschein zu geben, alle Fragen abschließend geklärt zu haben; dafür allerdings muss er in die Maske des Scharlatans schlüpfen und das, was ein hervorragender und anregender Essay hätte sein können, mit allerlei fadenscheinigen Halbgelehrsamkeiten bemänteln. Die sind dann bisweilen schlicht falsch, manchmal überflüssig und nicht selten ärgerlich. (…) / Dirk Uwe Hansen, Signaturen

Hesiod: Theogonie. Übersetzt und erläutert von Raoul Schrott, München (Hanser) 2014. 224 Seiten. 19,90 Euro.

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