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Dieses Mannes, dessen tschechische Bleistiftminen, die er vor der Wende gehortet hat, ihm bis in die jüngste Gegenwart reichen, gedenkt ein jüngerer Freund in einem Gedichtband, der „Stötzers Lied“ heißt und eine recht lockere Art von Lyrik betreibt. Stötzer fand man eines Tages tot im Sessel – Herzschlag –, wie schlafend und als ob er seine These, der Tod sei auch nur so eine Episode, durch eigenes Beispiel belegen wollte. Da er vorher ausgiebig geraucht und die halb leere Weinflasche noch verkorkt hatte, wohnt sein letztes Vermächtnis, der Qualm, in der Flasche „wie ein Dschinn“. Stötzer hatte es immer schon geschafft, stets saubere Fingernägel zu behalten, eine Leistung, vor der das ihn besingende lyrische Ich in Staunen gerät: Bekam man doch in der Ära der Braunkohle schon dreckige Finger, wenn man sich nur durchs Haar fuhr. Ja, ein leicht mit Grau untermischtes Braun muss man wohl als den vorherrschenden Farb- und Gemütston in diesem allenfalls unterschwellig wehmütigen Zyklus von Jan Kuhlbrodt bezeichnen.
Verschmitzte Gelassenheit bezieht er aus dem Vertrauen, dass der Mensch dann eine Chance hat, die Gezeiten der Geschichte zu überstehen, wenn er sich fest genug an den lokalen Untergrund klammert. Von diesem unscheinbaren Posten aus lassen sich gut Betrachtungen anstellen, etwa über die Metamorphosen des deutschen Adlers vom schlanken Raubvogel der Nazis zum dicken „Förderalismusgreif“ von heute. Und dazwischen liegt die historische Schicht des Arbeiter- und Bauernstaats. „Das Ehrliche am Sozialismus war der Einsatz schnell / verwitternder Baumaterialien, sagt Stötzer.“ Nicht nur, wo er einen versonnenen Blick auf die Bagger in der Leipziger Innenstadt wirft, stellt dieser Band eine Art Vorgriff auf die Archäologie der Zukunft dar. Und wer einwenden wollte, dass er durch die amateurhaften Illustrationen wie eine Schülerzeitung wirkt, würden Stötzer und Kuhlbrodt das vermutlich nicht gelten lassen. / Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung 9.4.
Jan Kuhlbrodt: Stötzers Lied. Gesang vom Leben danach. Verlagshaus J. Frank, Berlin 2013. 180 Seiten, 13,90 Euro.
http://www.poetenladen.de/jan-kuhlbrodt-gedichte3.htm
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