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Mit dem Beginn dieses Jahrhunderts scheint das Ansehen der „Glocke“ vollends auf dem Tiefpunkt angekommen zu sein. Man erinnert sich ihrer gerade noch als Kuriosum. Als vor vier Jahren Schillers 200. Todestag nahte, wurde zwar ein eigenes Buch über die „Glocke“ angekündigt; aber es erwies sich als ein Buch nicht eigentlich über das „Lied von der Glocke“, sondern über das „meistparodierte deutsche Gedicht“ und feierte satt der „Glocke“ die vielen Parodien, zu denen Schillers Werk durch seinen inhaltlichen Reichtum und seine profilierte sprachliche Form herausgefordert hat.
Und doch hat einst Wilhelm von Humboldt die „Glocke“ gerade dafür überschwänglich gerühmt. „In keiner Sprache“, schrieb Humboldt, sei ihm ein Gedicht bekannt, das in solch ingeniös wechselnden Silbenmaßen „alle Vorfälle des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens“ durchlaufe und zugleich die ganze „Tonleiter aller tiefsten menschlichen Empfindungen“ durchgehe. Dass man für diesen poetischen Kosmos den Blick verloren hat, ist ein Jammer und sollte rückgängig gemacht werden! Dafür muss das „Lied von der Glocke“ nicht wieder gepaukt werden, und es muss auch nicht unkritisch aufgenommen werden. Es sollte aber auch nicht weiter als Kuriosum behandelt, sondern – von den Schiller-Philologen und in den Schulen – immer wieder in seinem gedanklichen und poetischen Reichtum erschlossen und vor Augen geführt werden. Im übrigen sind die oben zitierten Zentralverse der Bürgerhymne nicht überholt, auch wenn es keinen König mehr gibt. / Mannheimer Morgen 31.10.
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