102. Ach, zeig mir den Punkt

Ach, zeig mir den Punkt, wo sich alles trifft
wer denn kann sagen: Ich  besitze, ich habe gehabt!
Eine Klause hast du dir geschaffen, eine Zelle für  dich,
deinen Rückzug
In der Stube steht auch ein Lager,
eine  Möglichkeit, zehn Minuten zu verweilen,
still zu sein
den Druck der Waden  zu spüren auf kühlem Laken
Du hebst den Tüll beiseite, dieses schräge Stück  Gardine
und blickst in die Landschaft
auf den Feldern stehen die  Raben
in Furchen, die leer sind, die Helle der Sonne
schräg aus dem  Weltall täuscht dich über die Zeit
Nebelmonat November, wenn alles  verschwebt,
die Gedanken, das Gedächtnis der Toten
höchsten ein Schrillen  weckt dich,
ein Ruf von Ferne, jemand am Telefon
der dich erreicht, der  dich einbezieht

Es gibt dir ein Dasein und ein Erinnern
eine Woche bedenken, atemlos  drüben
zwischen Wupper und Duisburg
An welches Haus, an welchen Hügel  gelehnt
richtet sich dein Gedanke auf
der so klar, der so lupengenau  ist
als wäre ein Dichter dabeigewesen
Reporter der nackten Dinge

Einmal so außer sich sein – dann weiterleben
wie unerkannt
Nun trägst  du Blumen in die Stube
Astern so knirschend kühl und herb wie du  selbst
wenn du dich nicht traust, die Wimpern zu öffnen
die Lider ganz  hochzuschlagen, mit deinen Augen zu sehen
deine Kraft, dein  Eigenstes
dich, im Spiegel oder im blinkenden Fensterglas
der Stube oder  im Echo des Freundes
der dich sieht und hört, wie du wirklich bist
dann  hast du alles Störende beiseite geschoben,
den Stuhl von der Tenne, die  schwere Schabracke
die dem Zimmer das Licht nimmt,
dann leuchtest du, du  bist du selbst
deine Stube bist du

Ich lege meine Hand in deine Seele
fühle mich gut dabei
Wir machen  beide eine Ausnahme
sie gefällt uns gut
Einmal
den Schwarm hochfliegen  lassen der nistenden Vögel
die alle ihr Heim hatten ihr Nest und ihre  Beköstigung
ihr zieht fort, Vögel und Schwärmer
und mir fällt das  Aufsegeln zu
wo von Küsten weg alles ins Blau, ins stürmische Meer
in die  Weite strebt
Zu deinem Traum fährst du
zum Nordkap
Annäherung und  Ferne, wer denn weiß, wann wir treulos
frank und frei uns hingeben, alles  fahren lassen
was uns bindet, uns hält
mit geschlossenen Augen
das  Schönste sehen
darüber still zu sein
wenn dich Unheimliches berührt
wie  ein Mund, der nicht da ist

(Wilhelm Fink)

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