Rilke 150

142 Wörter, 1 Minute Lesezeit.

Zugegeben, gestern gab es noch ein größeres Jubiläum – den 150 Geburtstag von Rainer Maria Rilke. Hier ein kleines Gedicht des großen Dichters, ein Sonett aus den „Neuen Gedichten“.

Rainer Maria Rilke 

(* 4. Dezember 1875 in Prag; † 29. Dezember 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux, Schweiz)

Der König

Der König ist sechzehn Jahre alt.
Sechzehn Jahre und schon der Staat.
Er schaut, wie aus einem Hinterhalt,
vorbei an den Greisen vom Rat

in den Saal hinein und irgendwohin
und fühlt vielleicht nur dies:
an dem schmalen langen harten Kinn
die kalte Kette vom Vlies:

Das Todesurteil vor ihm bleibt
lang ohne Namenszug.
Und sie denken: wie er sich quält.

Sie wüßten, kennten sie ihn genug,
daß er nur langsam bis siebzig zählt
eh er es unterschreibt.

Paris, um den 1. Juli 1906

Aus: Rainer Maria Rilke, Werke in drei Bänden. Hrsg. von Horst Nalewski. Erster Band: Gedichte. Leipzig: Insel, 1978, S. 436f

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