Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
Scholl: Wir haben vorhin – übrigens eine schöne Koinzidenz heute – dem großen Lyriker Reiner Kunze zu seinem 80. Geburtstag gratuliert. Und er hat einmal gesagt: Nichts vertreibt junge Menschen beim Literaturunterricht mehr als die Frage, was will der Dichter uns damit sagen. Das kennen die Älteren unter uns wohl auch noch gut aus der Schule, so Gedichtinterpretationen, einen Aufsatz muss man schreiben. Wie hält es denn da so die moderne Pädagogik damit an der Universität? Ist diese Frage auch für den Lehrer Detering tabu?
Detering: Sie ist überhaupt nicht tabu. Sie ist ja eine der vernünftigsten Fragen, die man an Texte stellen kann. Es ist nur schade, wenn man keine andere Frage als diese stellt, und es ist auch zumindest unklug, diese Frage gleich als erste zu stellen. Auch Reiner Kunze wird nichts dagegen haben, wenn man bei seinen Texten fragt, was er sich dabei gedacht habe oder was er uns habe mitteilen wollen.
Aber die erste Frage, die ich meinen Studenten, Studentinnen beizubringen versuche, lautet: Beschreibe, was du siehst oder beschreibe, was du hörst. Denn erfahrungsgemäß haben alle Lyrikleserinnen und -Leser die Neigung, möglichst schnell in den vermuteten oder unterstellten Tiefsinn vordringen zu wollen, deuten zu wollen, und dabei so ganz einfache Dinge zu übersehen, wie zum Beispiel die Frage, ob der Text gereimt ist oder nicht, ob er sich bestimmter regelmäßiger Metren bedient oder nicht – all diese formalen Eigenschaften, von denen aus meistens der sehr viel gangbarere Weg in die Frage führt, was wir denn mit diesem Text am Ende anfangen sollen. / DLR
Neueste Kommentare