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Veröffentlicht am 17. Juli 2013 von lyrikzeitung
Am 15.7. vor 100 Jahren wurde Abraham Sutzkever in Smorgon (heute Weißrußland) geboren, einer der größten jiddischen und israelischen Dichter. Hier einige aktuelle Nachrichten und ein Gedicht
Durch Frejdke Levitan lernte Abraham Sutzkever den Direktor des Instituts Max Weinreich kennen, der ihn mit den widerstreitenden Strömungen der jiddischen Avantgarde bekanntmachte. Da gab es »Di chaliastre« (Die Bande), die von romantisierender Städtllyrik Abschied nahm, um den deutschen Expressionisten mit ihrer Großstadtrealistik nachzueifern. Zum nichtnaturalistischen Schöpfungsakt eines bildertrunkenen Subjekts wurde das Dichten von den über Europa und Amerika verstreuten »Inzichistn« (Introspektivisten) erklärt. Die linksgerichtete Gruppe »Jung Wilne« (Junges Wilna) faßte Dichtung als politischen Auftrag auf. Ihr schloß Sutzkever sich an, bemühte sich jedenfalls darum. Sein Freund Shmerke Katsherginski sollte rückblickend sagen: »Es war für Sutzkever nicht leicht, in unsere junge Autorenfamilie aufgenommen zu werden. Deshalb nicht leicht, weil er uns fremd war. Genauer gesagt: sein Werk war uns fremd. Unser Auge war an ausgetretene Wege gewöhnt«. (…)
In Abgrenzung zur Lyrik der klassischen Moderne des Westens entwickelte Sutzkever eine der alternativen Moderne des Ostens. »Das progressive Menschenpack« von Marx sollte mit dieser Dichtung jene Revolution initiieren, in deren Verlauf eine im »universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen« alltäglich würde. In der Dichtkunst hatte Arthur Rimbaud das multiple Dasein des Individuums erprobt: »Ich – das ist ein anderer.« Was aber ist die Invariante, die in diesem universellen Austausch von Fähig#-keiten und Bedürfnissen Bestand haben wird?
Sutzkever beantworte diese Frage im Rückgriff auf außergewöhnliche Erfahrungen: »Ich – das ist die Kindheit«. Er hatte die Symbolisten studiert, auch Rimbaud. Der hatte seine Kindheit gehaßt. Sutzkever hingegen entdeckte die Flußlandschaft am Irtysch in Sibirien, wohin seine Familie im Ersten Weltkrieg verbracht worden war, als Ort des ekstatischen Aufbruchs. Voll kindlicher Dankbarkeit berauschte er sich am ungebärdigen Leben der Alteingesessenen und meinte später: »Jeder Mensch, aber besonders ein Schriftsteller, hat in seinem Leben und Schaffen seine Sehnsucht, seine Phantasie. Meine Phantasie ist Sibirien. Ich glaube, daß ich dort schon zum Schriftsteller wurde, obwohl ich damals noch keine Gedichte geschrieben habe.« / Antonín Dick, Poetenladen (auch in junge Welt)
1913: Birthdate of Avrom Sutzkever. Born in Russia, this Holocaust survivor is variously described as “an acclaimed Yiddish poet,” “one of the great poets of the 20th century” and „the greatest poet of the Holocaust.“ According to David G. Roskies, Sutzkever was the greatest poet of the Holocaust, who was also a leader of the Vilna ghetto and a partisan fighter. It would have been enough, he tells us, had Sutzkever been only “a symbol of hope and creative power for the powerless Jews of the ghetto,“ but he was much more. As “the foremost among Jewish poets“ Sutzkever “made the memory of the dead the nexus of his artistic expression.“ In his major prose poem, “Green Aquarium,“ Sutzkever accomplishes the transcendence of the dead by proposing the victory of poetry over death, art over destruction, neo-classical form over chaos, and the beauty of what remains in the universe after barbarism has done its terrible work He passed away in Tel Aviv. There is no way to do justice to his work, which you can read in English here. / Cleveland Jewish News
Andree Ochodlo: Abraham Sutzkever to jeden z najbardziej cenionych poetów, piszący w jidysz. Przez wiele lat był kandydatem do Nagrody Nobla, był przyjacielem Czesława Miłosza i Polski. W dniu 15 lipca świętowałby swoje setne urodziny. Jeśli ktoś chciałby dowiedzieć się więcej, polecam książkę: „Wilno Jerozolimą było – rzecz o Abrahamie Sutzkeverze“, autorstwa Daniela Kaca, opublikowaną przez Wydawnictwo Pogranicze. / cjg.gazeta.pl
Abraham Sutzkever survived the Holocaust, immigrated to Palestine and was the only Yiddish poet awarded the Israel Prize / Haaretz
In den ersten Jahrzehnten des jüdischen Staates stand die jiddische Sprache nicht hoch im Kurs. Erst 1985 erhielt er als erster jiddischer Dichter den Israelpreis, 2005 erschien eine Ausgabe mit Übersetzungen ins Hebräische.
1948 schrieb er das Gedicht „Jiddisch“ als Reaktion auf Behauptungen, es handle sich um eine tote Sprache.
yidish
(farfast 1948)
zol ikh onheybn fun onheyb?
zol ikh vi avrohom
oys brudershaft tsehakn ale getsn?
zol ikh zikh a lebedikn lozn iberzetsn?
zol ikh aynflantsn mayn tsung
un vartn biz farvandlen
vet zi zikh in oves|dike
rozhinkes mit mandlen?
vos far a katovesdike
vitsn
darshnt mayn poezye-bruder mit di baknbardn,
az mayn mame-loshn geyt bald unter?
mir veln nokh in hundert yor arum do kentik zitsn
un firn di diskusye bay dem yarden.
vayl a shayle noglt un noglt:
oyb er veys genoy vu
di tfile fun berditshever,
yehoyeshes lid
un kulbaks
voglt
tsu dem untergang –
to zol er mir, a shteyger,
onvayzn – vuhin – di shprakh geyt-unter?
efsher bay dem koysel-marovi?
oyb yo, vel ikh dort kumen, kumen,
efenen dos moyl,
un vi a leyb,
ongeton in fayerdikn tsunter,
aynshlingen dem loshn vos geyt-unter,
aynshlingen un ale doyres vekn mit mayn brumen!
ייִדיש
זאָל איך אָנהײבן פֿון אָנהײב?
זאָל איך װי אַװראָהאָם
אױס ברודערשאַפֿט צעהאַקן אַלע געצן?
זאָל איך זיך אַ לעבעדיקן לאָזן איבערזעצן?
זאָל איך אײַנפֿלאַנצן מײַן צונג
און װאַרטן ביז פֿאַרװאַנדלען
װעט זי זיך אין אָבֿותדיקע
ראָזשינקעס מיט מאַנדלען?
װאָס פֿאַר אַ קאַטאָװעסדיקע
װיצן
דאַרשנט מײַן פּאָעזיע־ברודער מיט די באַקנבאַרדן,
אַז מײַן מאַמע־לשון גײט באַלד אונטער?
מיר װעלן נאָך אין הונדערט יאָר אַרום דאָ קענטיק
זיצן
און פֿירן די דיסקוסיע בײַ דעם ירדן.
װײַל אַ שאלה נאָגלט און נאָגלט:
אױב ער װײס גענױ װוּ
די תּפֿילה פֿון בערדיטשעװער,
יעהױעשעס ליד
און קולבאַקס
װאָגלט
צו דעם אונטערגאַנג ־
טאָ זאָל ער מיר, אַ שטײגער,
אָנװײַזן ־ װוּהין ־ די שפּראַך גײט־אונטער?
אפֿשר בײַ דעם קױסעל־מאַראָװי?
אױב יאָ, װעל איך דאָרט קומען, קומען,
עפֿענען דאָס מױל,
און װי אַ לײב,
אָנגעטאָן אין פֿײַערדיקן צונטער,
אײַנשלינגען דעם לשון װאָס גײט־אונטער,
אײַנשלינגען און אַלע דורות װעקן מיט מײַן
ברומען!
Jiddisch
Soll ich von Anbeginne anbeginnen? / Soll ich wie Abraham / aus Bruderschaft alle Götzen zertrümmern? / Soll ich mich noch beim Leben übersetzen lassen? / Soll ich meine Zunge einpflanzen / und darauf warten, / bis sie sich in urväterliche / Rosinen und Mandeln verwandelt? / Welche vor Unsinn strotzenden / Witze / predigt mein Poesie-Bruder mit dem Backenbart darüber, / dass meine Muttersprache bald untergehen würde? / Klar ist, dass wir noch in hundert Jahren hier sitzen / und am Jordan die Diskussion führen werden. / Denn eine Frage bohrt und bohrt: / Weiß er denn tatsächlich, wo / das Gebet des Berditschewers, / Jehoasch‘ Dichtung / und die von Kulbak / dem Untergang / entgegenzieht – / Soll er mir also etwa / zeigen, wohin die Sprache untergehend verschwindet? / Vielleicht bei der Klagemauer? / Wenn dem so ist, werde ich dorthin kommen / und den Mund auftun / und wie ein Löwe, / gehüllt in feurigen Zunder, / die Sprache, die da untergeht, verschlingen, / verschlingen – und alle Generationen mit meinem Brüllen wecken!
Deutsch von Armin Eidherr in: Armin Eidherr, Sonnenuntergang auf eisig-blauen Wegen: Zur Thematisierung von Diaspora und Sprache in der jiddischen Literatur des 20. Jahrhunderts
Band 1 von Poetik, Exegese und Narrative / Poetics, Exegesis and Narrative
V&R unipress GmbH, 2012
ISBN 3899719948, 9783899719949
Länge 382 Seiten hier
Shall I start from the beginning?
Shall I, a brother,
Like Abraham
Smash all the idols?
Shall I let myself be translated alive?
Shall I plant my tongue
And wait
Till it transforms
Into our forefathers‘
Raisins and almonds?
What kind of joke
Preaches
My poetry brother with whiskers,
That soon, my mother tongue will set forever?
A hundred years from now, we still may sit here
On the Jordan, and carry on this argument.
For a question
Gnaws and paws at me:
If he knows exactly in what regions
Levi Yitzhok’s prayer,
Yehoash’s poem,
Kulbak’s song,
Are straying
To their sunset —
Could he please show me
Where the language will go down?
May be at the Wailing Wall?
If so, I shall come there, come,
Open my mouth,
And like a lion
Garbed in fiery scarlet,
I shall swallow the language as it sets.
And wake all the generations with my roar!
1948
Transl. by Barbara and Benjamin Harshav, in: Sutzkever, A. A. Sutzkever: Selected Poetry and Prose. Berkeley: University of California Press, c1991 1991. http://ark.cdlib.org/ark:/13030/ft5q2nb3z7/
Kategorie: Israel, JiddischSchlagworte: Abraham Sutzkever, Antonín Dick, Armin Eidherr, Arthur Rimbaud, Barbara Harshav, Benjamin Harshav, Max Weinreich, Shmerke Katsherginski
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