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Bei Dao ist einer der wichtigsten Vertreter der „obskuren“ oder „hermetischen“ Lyrik, die gerade in dieser Zeit des vorsichtigen Aufbruchs entstand. Infolge der geistigen Isolation während der Kulturrevolution, die die Sprache für eine einseitige Parteipropaganda völlig vereinnahmt hatte, gab es nur noch verbrauchte, verbogene, geschändete Worte, die nicht mehr tauglich für die Poesie waren. Harmlose Naturbegriffe wurden in der Nachkriegsära mit anderen Bedeutungen versehen, Sonne verkam zu einer Metapher für Macht oder Mao, Meer für Gewalt, Partei oder Massen. Unter diesen Sprachmasken begann sich nun eine individuelle Kraft zu regen, die versuchte, die Kodierung aufzusprengen, zu entideologisieren und die Sprache wieder einer ursprünglichen Poesie zuzuführen.
Die hermetische Lyrik wurde deshalb von Anfang an mehr unter einem politischen denn ästhetischen Aspekt verfasst. Das für sie charakteristische Auflösen von eindeutigen Bezügen, das scheinbar beziehungslose Kombinieren von Dingen, die Verwirrung von Raum und Zeit, das – das alles diente weitgehend dazu, dem Dichter, der immer auch gleichzeitig für seine Generation sprach, Freiräume innerhalb politisch zementierter Verhältnisse zu schaffen und Dinge, die direkt nicht ausgesprochen werden durften, auf anderem Wege zu übermitteln. Und gleichzeitig konnte so die Sprache befreit und ihre Substanz reanimiert werden. Im Gedicht „Die Antwort“, dem wohl berühmtesten dieser literarischen Strömung, schrieb Bei Dao: „Ich sage dir, Welt, / Ich – glaube – nicht!“ /Cornelia Jentzsch, Berliner Zeitung 16.6.01
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