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Veröffentlicht am 31. August 2025 von lyrikzeitung
490 Wörter, 3 Minuten Lesezeit
Den Germanisten des 19. und zu einem Großteil noch des 20. Jahrhunderts war dieses Lied peinlich. Ungeheuerlich, dass ein 15-, 16jähriges Mädchen von einem „Knecht“ schreibt, der seine Geliebte auffordert, ihm ihren „Schoß“ zu bieten und dazu den ländlichen Anschauungsunterricht mitliefert: „Schau der Welt Sachen / wie eß die machen / wie eß vohn anfang ist gemacht / Schaw an das Vieh / das sich / ohn Müh / fein pflegt zu paaren“. Ihr erster Biograf schrieb über die „Skepsis des jungen Mädchens gegenüber der Liebe“ und viele kaprizierten sich auf einen ja vielleicht übersteigerten Freundschaftskult: weil nicht sein kann was nicht sein darf.
Leider konnte die „französische Melodie“ bisher nicht aufgefunden werden. Das Gedicht ist in singbare Strophen untergliedert, die nach damaligem Gebrauch nicht durch eine Leerzeile markiert werden, sondern nur durch Einrückung des Strophenanfangs.
Sibylla Schwarz
(* 14. Februarjul. / 24. Februar 1621greg. in Greifswald; † 31. Julijul. / 10. August 1638greg. ebenda)
Lied
auff eine Französische Melodey.
DJr / O mein Leben !
bin ich ergeben /
Jch tuh auch / was ein Diener kan /
dennoch / mein Licht /
lohnst du mir nicht /
wie du wohl schuldig /
weil ich gedultig
die Marter nehme an.
Wer wil vertragen
so große Plagen /
und haben keinen Lohn davohn ?
bist nicht eim Knecht /
Der Treu und Recht
dient / und gedultig /
den Lohn auch schuldig ?
drümb gib mir meinen Lohn.
Zwahr deinen Willen
magst du erfüllen /
dennoch dien ich dir nicht umbsonst /
wilt du / mein Licht /
mehr mir denn nicht /
wilt du / mein Leben /
mehr mir nicht geben /
so gib mir deine Gunst.
Wo dise Gaben
ich nicht kan haben /
so werd ich grau auff einen Tag /
wo ich dis nicht
erlang / mein Licht /
daß deine Straalen
auff mich frey fallen /
verlohren ist die Sach.
Schau der Welt Sachen /
wie eß die machen /
wie eß vohn anfang ist gemacht /
Schaw an das Vieh /
das sich / ohn Müh /
fein pflegt zu paaren /
laß uns auch fahren
den Weg / da Glücke lacht.
Soll’n dan die Zeiten
vohrüber schreiten /
in den’n die Jugend Bluhmen bringt /
ohn Lust und Freud /
in lauterm Leid ?
komb doch / mein Leben /
du kanst mir geben /
wohrnach die Jugend ringt.
Jch wil gedenken /
du wirst mir schencken
für meine Müh die zarte Schoß /
und was noch mehr
ich auch begehr /
kom / meine Sonne /
komb meine Wonne /
mach mich der Seuffzer loß !
Wo diese Gabe
ich nuhr bloß habe /
so werd ich frey von aller Noht ;
geschiht eß nicht /
daß mir mein Licht
die Gunst wil geben /
kan ich nicht leben /
bin schon fast lebend todt.
Drümb diss Bedingen
lass mir gelingen ;
mein Lieb / wo du mich lieb gewinst /
so liebe recht /
wie ich dein Knecht ;
lass sich nicht enden
die Lieb / noch wenden /
so hab ich den Verdienst.
Lass sich nicht enden /
noch einmahl wenden
die Liebe und Bestendigkeit /
so kan ich seyn
ganz ohne Pein /
lass dich nicht lencken /
du must gedencken
Wo Lieb ist / ist auch Neid.
Aus: Sibylla Schwarz, Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe. Hrsg. Michael Gratz, Band 1. Leipzig: Reinecke & Voß, 2021, S. 113ff (Hardcoverausgabe).
Kategorie: Deutsch, DeutschlandSchlagworte: „Knecht und Herrin“-Motiv, barocke Liebeslyrik, Barocklyrik und Körperlichkeit, deutschsprachige Dichterinnen 17. Jahrhundert, Dichterin des Barock, Erotik in der Barockdichtung, französische Melodie verloren, Geschlechterrollen in der Lyrik, Greifswald Literaturgeschichte, Liedtext Barock, Michael Gratz Herausgeber, Natur als erotisches Argument, poetische Selbstbehauptung, Rezeption von Erotik in der Germanistik, Sibylla Schwarz, singbare Dichtung, Strophenform ohne Leerzeilen, weibliche Stimme in der Literaturgeschichte, Werke von Sibylla Schwarz
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