Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
In seinem berühmten Vortrag über «Probleme der Lyrik» hat Gottfried Benn einst den Zustand poetischer Wahrnehmungsempfindlichkeit mit den Sinnesorganen von winzigen Urtierchen verglichen. Er verwies dabei auf das Tastorgan von Kleinstlebewesen im Wasser, die «von Flimmerhaaren bedeckt» seien. Auch den Dichter muss man sich in diesem Sinne als einen von Flimmerhaaren bedeckten Menschen vorstellen, der die Bewusstseinsreize wie auch die lyrischen Substantive und Chiffren ertastet und in eine zarte Textur einwebt. Dieses Konzept einer Dichtung der subtilen Wahrnehmungsnuance, die sich mit den einzelnen Aggregatzuständen von Naturstoffen beschäftigt, mit Wind- und Wellenbewegungen, mit den kleinsten Veränderungen einer Landschaft hat der Lyriker Nico Bleutge in mittlerweile drei Gedichtbänden immer weiter verfeinert.
Sein jüngster Band «verdecktes gelände» ist nun ein Meisterstück einer in Dichtung transformierten Naturgeschichte. (…)
Kritiker von Bleutges Lyrik haben gelegentlich eingewandt, dass sich der Dichter nur als Kollektor sinnlicher Eindrücke versteht, seine Subjektivität aber in auffälliger Weise hinter den beschriebenen Dingen versteckt. Richtig daran ist die Beobachtung, dass Bleutge mit dieser artifiziellen Form von Natur- und Wahrnehmungs-Lyrik einen Endpunkt erreicht hat, an dem keine grössere Detailgenauigkeit mehr erreicht werden kann. Bei einem Dichter von diesem Niveau darf man aber sicher sein, dass er sich demnächst neu erfinden wird. / Michael Braun, NZZ 15.5.
Nico Bleutge: verdecktes gelände. Gedichte. Verlag C. H. Beck, München 2013. 76 S., Fr. 21.90.
Neueste Kommentare