72. Animierte Typografie

Tablet-Computer wie Apples Ipad gelten als neue Hoffnung für die Medien- und Buchindustrie. Verglichen mit anderen E-Book-Lesegeräten bieten sie dank Touchscreen, stärkerer Prozessorleistung und buntem, zur Video wiedergabe fähigem Bildschirm allerlei Möglichkeiten, E-Books multimedial und interaktiv aufzurüsten. Doch während damit experimentiert wird, Bücher mit Videoclips anzureichern, sie mit Soundtracks zu unterlegen oder mit Videospiel -Elementen zu versehen, ist eine entscheidende – und der Literatur vielleicht besonders gerechte – Möglichkeit bisher kaum beachtet worden: Die Lettern können endlich beweglich werden, die Wörter Laufen lernen. …

Mit dem Ipad und anderen Tablets werden bald schon Kanäle zur Verfügung stehen, die es solchen Präsentationen ermöglichen, ein Publikum zu erreichen, das weitaus größer ist als bisher, da diese Präsentationen nur am Computer zu konsumieren waren. Und indem sie auf einem Lesegerät – und eben nicht auf einem Computerbildschirm – konsumiert werden, wird man diese Werke weniger als Videopräsentation denn als Texte wahrnehmen.

Wer sich eine Reihe solcher Präsentationen anschaut, wird schnell feststellen, dass die Typografie darin eine herausragende Rolle spielt: Die Buchstaben entwickeln hier ein expressives Potenzial, das ihre verschiedensten Aspekte wie Schriftschnitt, Zeichengröße, Farbe, Körperlichkeit, Hintergrundfarbe und Geschwindigkeit des Ablaufes einschließt. Das meiste hiervon war auch auf Papier möglich, hat sich dort abgesehen von künstlerischen Experimenten (wie etwa in Dada-Werken) aber nie wirklich durchgesetzt. Gänzlich neu ist jedoch die Dimension der Zeitlichkeit, der Geschwindigkeit des Ablaufs, in dem diese Typografie vor die Augen des Betrachters gebracht wird. Damit steht eine zusätzliche Darstellungsdimension zur Verfügung, die die anderen Aspekte der Typografie erst recht zur Geltung bringt. Genau dies macht diese neuen Darstellungsmöglichkeiten attraktiv auch für literarische und fiktionale Texte, in denen es nicht darum geht, etwa Video- oder Fotobelege aus der realen Welt einzubinden, sondern sich im Textmedium auszudrücken und dabei die medialen Bedingungen von Sprache und Text selbst in die künstlerische Auseinandersetzung mit einzubeziehen. Text kann jetzt stocken, fließen, sich überschlagen wie Sprache von jeher. …

Der Gedanke, dass bald nicht nur Werkderivate (also Adaptionen traditioneller Literatur, Filme oder Songs in die animierte Typografie), sondern originäre Werke der animierten Typografie entstehen werden, ist reizvoll. Für Lyrik scheint die neue Werkform auf den ersten Blick besonders geeignet: Ich wäre beispielsweise ausgesprochen neugierig auf eine Adaption von MallarmesCoup de des” in bewegten Lettern. /  Tanz der Lettern. Von Thomas Rohde. Perlentaucher 19.5.

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