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In den erhitzten Diskursen über die zeitgenössische Lyrik* werden die magischen Quellen der Dichtung oft vergessen – als da sind: der Schamanismus, die animistische Anrufung, der Beschwörungszauber. An ihrer archaischen Quelle ist die Dichtung Gesang und das „Geheul“ des Priesters und Heilers. In dieser frühen kultischen Praxis sind die Seele und die Dinge noch nicht voneinander getrennt, die Materie, die Tiere, Pflanzen und Menschen sind ineinander verwandelbar. In diese Sphäre des Ungeschiedenen führen uns seit einiger Zeit die Dichtungskonzepte einiger amerikanischer Dichter, die das Mystische und das Biologische in einer poetischen Symbiose vereinigen wollen. An diese schamanistische Vorstellung knüpfen auch die Gesänge der Navajo-Indianer an, denen der jüdisch-amerikanische Dichter und Ethno-Poet Jerome Rothenberg eine „Total-Übersetzung“, eine „Total Translation“ gewidmet hat. Die aktuelle Ausgabe, die Nummer 82 der Literaturzeitschrift „Schreibheft“ gibt einen faszinierenden Einblick in diese Welt der Sprachmagie. Im Blick auf diese Gesänge darf man sich den Dichter als „verrückten Hund“ oder aber als „weißes Geisterpferd“ vorstellen. (…)
Im zweiten Teil seines Dossiers startet Norbert Lange eine nicht minder faszinierende Expedition zu den experimentellen Polen-Gedichten Jerome Rothenbergs, in denen dieser nach den Quellen einer „jüdischen linguistischen Praxis“ forscht – nicht um eine genuin jüdische Identität zu finden, sondern „Identität zu bezweifeln oder in Frage zu stellen“. Der historische Fluchtpunkt dieser Bemühungen ist eine Dichtung der Shoah, die Adornos Verdacht gegen eine Dichtung nach Auschwitz geradezu umkehrt: „kein Sinn“, heißt es bei Jerome Rothenberg, „nach Auschwitz / gibt es nur noch Poesie keine Hoffnung / keine andere Sprache für die Heilung“. / Michael Braun, Poetenladen
(Außerdem geht die Besprechung u.a. auf einen weiteren Höhepunkt des aktuellen „Schreibheft“ ein: „eine noch unveröffentlichte Szenographie Inger Christensens, einen dramatischen Text mit dem Titel „Der Äther““.)
Schreibheft. No 82
Rigodon Verlag, Nieberdingstraße 18, 45147 Essen. 180 Seiten, 13 Euro.
*) O, 1 Woche nicht da und was verpaßt 😉
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