Was erwart ich denn? Was tut mir leid?

Michail Lermontow (1814-1841)

Strophen

Einsam tret ich auf den Weg, den leeren,
Der durch Nebel leise schimmernd bricht;
Seh die Leere still mit Gott verkehren
Und wie jeder Stern mit Sternen spricht.

Feierliches Wunder: hingeruhte
Erde in der Himmel Herrlichkeit…
Ach, warum ist mir so schwer zumute?
Was erwart ich denn? Was tut mir leid?

Nichts hab ich vom Leben zu verlangen
Und Vergangenes bereu ich nicht:
Freiheit soll und Friede mich umfangen
Im Vergessen, das der Schlaf verspricht.

Aber nicht der kalte Schlaf im Grabe.
Schlafen möcht ich so jahrhundertlang,
Dass ich alle Kräfte in mir habe
Und in ruhiger Brust des Atems Gang.

Dass mir Tag und Nacht die süße, kühne
Stimme sänge, die aus Liebe steigt,
Und ich wüsste, wie die immergrüne
Eiche flüstert, düster hergeneigt.

(aus dem Russischen von Rainer Maria Rilke)


Wandr’ ich in der stillen Nacht alleine,
Durch den Nebel blitzt der Steinweg fern —
Redet Stern zum Stern im hellen Scheine,
Und die Wildniß lauscht dem Wort des Herrn.

Golden schimmernd, hinterm Felsenhange,
Dehnt des Himmels Blau sich endlos weit —
Was ist mir die Brust so schwer, so bange?
Hoff’ ich Etwas — thut mir Etwas leid?

Nein! mich lockt nicht mehr der Hoffnung Schimmer,
Und Vergangenes thut mir nicht leid —
Doch ich möchte schlafen gehn auf immer,
Freiheit such’ ich und Vergessenheit!

Aber nicht den kalten Schlaf der Truhe,
Nicht die Freiheit, die uns todt begräbt;
Ruhe möcht’ ich — doch lebend’ge Ruhe,
Drin noch athmend meine Brust sich hebt.

Unter immergrüner Eichen Fächeln
Möcht’ ich ruhen all mein Leben lang —
Vor mir schöner Augen Liebeslächeln,
Und in Schlaf gelullt von Liebessang.

Deutsch von Friedrich von Bodenstedt (1819-1892)


М.Ю. Лермонтов

I.

Выхожу один я на дорогу
Сквозь туман кремнистый путь блестит;
Ночь тиха. Пустыня внемлет Богу,
И звезда с звездою говорит.

II.

В небесах торжественно и чудно!
Спит земля в сиянье голубом…
Что же мне так больно и так трудно?
Жду ль чего? жалею ли о чём?

III.

Уж не жду от жизни ничего я,
И не жаль мне прошлого ничуть;
Я ищу свободы и покоя!
Я б хотел забыться и заснуть!

IV.

Но не тем холодным сном могилы…
Я б желал навеки так заснуть,
Чтоб в груди дремали жизни силы,
Чтоб, дыша, вздымалась тихо грудь;

V.

Чтоб всю ночь, весь день мой слух лелея,
Про любовь мне сладкий голос пел,
Надо мной чтоб, вечно зеленея,
Тёмный дуб склонялся и шумел.

1841г.

Hier gibt es eine andere Übersetzung (Eric Boerner)

Weitere mir zugängliche Fassungen:

  • Gedichte / Im Versmass des Originals von Friedrich Fiedler (Reclam 1893)
  • Rudolf Pollach, in Kay Borowsky: Fünfzig russische Gedichte (Reclam 2001)

4 Comments on “Was erwart ich denn? Was tut mir leid?

  1. Pingback: Лермонтов: Выхожу один… LERMONTOW: ICH GEH AUS ALLEIN… | 中国大好き

  2. LERMONTOW: ICH GEH AUS ALLEIN…

    Ich geh aus, allein. Nacht liegt wie tot.
    Ein Pfad blitzt im Nebel, ich kann mich entfernen.
    Das leere Feld hört auf Gott
    Und Sterne reden mit Sternen.

    Der Himmel ist ein feierliches Wunder.
    Die Erde schläft im Blau.
    Was fällt mir schwer? Wo ist meine Wunde?
    Was tut mir leid? Worauf wart ich genau?

    Ich warte auf nichts mehr im Leben
    Und finde auch nichts, das mich reut.
    Ich suche Ruhe und Freiheit,
    Vergessen und Schlummer sollt ihr mir geben.

    Nur will ich nicht in die kalte Gruft,
    Ich will nur Jahrhunderte dösen,
    Meine Kraft soll ruhen in meiner Brust
    Aber mein Atem darf nicht verwesen.

    Tag und Nacht brauch ich Liebe im Ohr,
    ein süßes Singen,
    eine raschelnde Eiche möcht ich davor,
    dass Zweige dunkel über mir hingen.

    1841
    Übersetzt von MW im November 2019

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  3. Friedrich von Bodenstedts Übertragung gefällt mir besser als die schwer rilkende Rilke’sche. Russisch kann ich nicht lesen.
    Interessehalber habe ich den Originaltext der Übersetzungsmaschine (in diesem Fall: DeepL) zur Verarbeitung gegeben. Sie schlägt für die dritten Strophe vor:
    „Ich erwarte nichts vom Leben, / Und die Vergangenheit tut mir überhaupt nicht leid; / Ich suche Freiheit und Frieden! / Ich möchte mich selbst vergessen und einschlafen!”
    Der Schlussvers lautet hier:
    „Dunkle Eiche verbeugte sich und machte ein Geräusch.”
    Ich gebe zu, dass Rilkes Idee, die Aussage dieses Schlussverses in den wiederholten „üst”-Klang zu übersetzen, gut ist. Insgesamt sind mir aber beide (dichterischen) Übertragungen zu süß. Meine Idee von Lermonotow (hüstel, aber mehr als seinen Roman kenne ich auch nicht, hüstel) ist, dass das nüchtern und trocken klingen sollte, auch ein bisschen eingeschnappt. Reime, Lyrizismen sind ebenfalls drin, klar, aber vielleicht mehr als trotzige Dreingabe, wegwerfend: „Da!”
    [Falls die Formatierung schiefgegangen sein sollte, bitte ich um Korrektur. Danke.]

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