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Titelblatt der Süddeutschen Zeitung von heute:
Günter Grass warnt vor einem Krieg gegen Iran. In seinem Gedicht mit dem Titel ‚Was gesagt werden muss‘ fordert der Literaturnobelpreisträger deshalb, Israel dürfe keine deutschen U-Boote mehr bekommen.
Im Feuilleton auf Seite 11 steht das komplette Gedicht, Probe aus dem Mittelteil:
Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,
der das von einem Maulhelden unterjochte
und zum organisierten Jubel gelenkte
iranische Volk auslöschen könnte,
weil in dessen Machtbereich der Bau
einer Atombombe vermutet wird.
Doch warum untersage ich mir,
jenes andere Land beim Namen zu nennen,
in dem seit Jahren – wenn auch geheimgehalten –
ein wachsend nukleares Potential verfügbar
aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung
zugänglich ist?
(In der Zeitung El País kann man es komplett und frei auf Spanisch lesen, ich sag mal, angesichts der poetischen Qualität des Textes kann man verlustfrei auf diese zurückgreifen. Es soll heute auch in der „New York Times“ und in „La Repubblica“ stehen, wo es aber zumindest bislang nicht online zugänglich ist.)
Nachtrag: Hier veröffentlicht es die Süddeutsche ebenfalls komplett. Man muß nur nach jedem Punkt eine Leerzeile dazudenken. Obwohl es das „Gedicht“ auch nicht rettet.
In der Welt antwortet Henryk M. Broder:
Grass hat schon immer zu Größenwahn geneigt, nun aber ist er vollkommen durchgeknallt. Ganztätig mit dem Verfassen brüchiger Verse beschäftigt, hat er keine der vielen Reden des iranischen Staatspräsidenten mitbekommen, in denen er von der Notwendigkeit spricht, das „Krebsgeschwür“, das Palästina besetzt hält, aus der Region zu entfernen. Denn das ist nur „Maulheldentum“, das man nicht ernst nehmen muss, so wie die Existenz einer einzigen Bombe „unbewiesen“ ist, bis sie zum Einsatz kommt. …
Grass hatte schon immer ein Problem mit Juden, aber so deutlich wie in diesem „Gedicht“ hat er es noch nie artikuliert. In einem Interview mit „Spiegel Online“ im Oktober 2001 sagte er, wie er sich die Lösung der Palästina-Frage vorstellt: „Israel muss nicht nur besetzte Gebiete räumen. Auch die Besitznahme palästinensischen Bodens und seine israelische Besiedlung ist eine kriminelle Handlung. Das muss nicht nur aufhören, sondern rückgängig gemacht werden. Sonst kehrt dort kein Frieden ein.“
Das war nicht mehr und nicht weniger als eine Aufforderung an Israel, nicht nur Nablus und Hebron, sondern auch Tel Aviv und Haifa aufzugeben. …
Die Deutschen werden den Juden nie verzeihen, was sie ihnen angetan haben. Damit im Nahen Osten endlich Frieden einkehrt und auch Günter Grass seinen Seelenfrieden findet, soll Israel „Geschichte werden“. So sagt es der iranische Präsident, und davon träumt auch der Dichter beim Häuten der Zwiebel.
Was gesagt werden muss ist, dass es zur europäischen Tradition gehört, die Juden vor dem Pessach-Fest des Ritualmords anzuklagen. Früher waren es christliche Kinder, deren Blut die Juden angeblich zur Herstellung der Mazzen verwendeten, heute ist es das iranische Volk, das der jüdische Staat angeblich auslöschen will.
Was auch gesagt werden muss ist, dass Israel der einzige Staat auf der Welt ist, dessen Existenzrecht öffentlich angezweifelt wird. So war es schon am Tag seiner Gründung, und so ist es auch heute noch.
Wir wollen in Frieden mit unseren Nachbarn in der Region leben. Und wir sind nicht bereit, die Rolle zu übernehmen, die Günter Grass uns bei der Vergangenheitsbewältigung des deutschen Volkes zuweist.
Emanuel Nashon, Gesandter des Staates Israel, Botschaft des Staates Israel, 04.04.12
Andreas Graf
GG ohne Ge*
Halt ohne Ge
Stalt ohne Ge
Biss ohne Ge
Wissen ohne Ge
Fallen ohne Ge
Denken ohne Ge
Fühl ohne Ge
Mach ohne Ge
Nie ohne Ge
Dächtnis ohne Ge
Schenke ohne Ge
Schicke ohne Ge
Wicht ohne Ge
Sicht ohne Ge
Dicht ohne Ge
*über das Gedicht „Warum schweige ich“ von Günter Grass
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Schade, dass die Debatte so verengt geführt wird. Wen bedroht das iranische Streben nach atomarer Bewaffnung eigentlich mehr: Israel oder – UNS? (vgl. meinen Blog-Eintrag „Iranische Atombombe, Israel, der Pimpf Günter Grass und die Rattenpublizistik“ – http://beltwild.blogspot.de/2012/04/iranische-atombombe-israel-der-pimpf.html)
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1. Wie weit ist kritik an der isrealischen gegenwartspolitik erlaubt, das ist eine der fragen, die der text und die losgetretene diskussion aufwirft…
2. Auch wenn gedicht drüber steht, darf man den text nach ästhetischen gesichtpunkten anschauen…?
3. Der text ist als befürchtung formuliert, die auf realen geschehnissen fusst…
4. Oder (provokante) fragen, die sich aufdrängen, die begründet werden
“ aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung
zugänglich ist?“
( hier steckt womöglich eines der probleme des textes, das gedicht das kein gedicht ist oder sein will, aber sich dann doch mit einer rhetorischen wendung literarisch abdichtet….)
5. Ein fragwürdiger duktus,
“was gesagt werden muss“
“und mit letzter tinte“
da schwingen für zwei wörtchen mit – noch mal – , und ungut auch das wort „letzter“
…
…
6. Kann man die teile, die ins abwegige führen könnten, trennen vom literaten grass….
7. Warum läuft da etwas von vermächtnis mit….
8.
9.
Für mich: eine wichtige ansprache auf sand gesetzt…..
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um missverständnissen vorzubeugen (ich bekam schon eine mail deswegen): „m.h.“ hier oben bin nicht ich. martina hefter.
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Pingback: Kulturbeutel Special: Grass : Schmetterlingsgesang
(versuchen wir doch mal eine lyrische antwort auf grass‘ und seiner kritiker „lyrik“)
mit erster tinte des morgenthaus geschrie(be)n
(auch an günter grass)
empört sich einer – und das soll’n wir doch,
wir dichter, schreibend schweigend minderheit –,
eröffnet gähnend wie sein vers das loch
nun sich, zu schreien, was gewöhnlich schreit.
der dichter schreibt indes „mit letzter tinte“,
das ist sein auftrag, den nur er erteilt
sich selbst, und uns nur davon singt und blinkte
sein turm, der seinem elfenbein enteilt.
wer schreibt, der bleibt, doch nicht, wer solchem schreit
verzweiflung gegen zweifelndes verengen
und so nicht sagt, was nicht gesagt, bescheid
verkündet jenen tätern, die dem täter
dichtung nun den schreibtisch aberkennen,
an dem sie bleibt geschriebener verräter.
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Ach was.
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Der Text von Günter Grass ist eher ein politischer Kommentar als ein Gedicht – ein Kommentar, der angesichts israelischer Kriegsplanspiele drohende Gefahren beim Namen nennt. Wenn Herr Broder nun die Keule des Antisemitismus gegen Grass auspackt, kann man nur von Diffamierung sprechen. Auch ein Deutscher darf die Politik Israels kritisieren, ohne gleich in den Verdacht zu geraten, ein Antisemit zu sein.
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auch ein deutscher: aha. was genau ist dieser broder?
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Interessant ist die Frage, warum das Stück als Gedicht ausgewiesen wird, (nach der Definition von Eagleton wäre es eins: …in poetry it is the author who decides where the lines end, whereas in prose it is the typesetter) – aber hier ist die Gattungsbezeichnung ja vielmehr eine Lektüreanweisung (Lies mich als Gedicht!) – als eine ästhetisch vollzogene Form oder die Auseinandersetzung mit ihr.
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für mich der lyrische höhepunkt dieses desasters:
„Warum sage ich jetzt erst,
gealtert und mit letzter Tinte:
Die Atommacht Israel gefährdet
den ohnehin brüchigen Weltfrieden?
Weil gesagt werden muß,
was schon morgen zu spät sein könnte“
poetologie at its best. nobelpreisverdächtig.
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